Die Schweizer Radrennfahrerin Marlen Reusser hat mitten in einem wichtigen Rennen ohne ersichtlichen Grund aufgegeben. Am 10. August 2023 startete sie an der Rad-Weltmeisterschaft in Schottland als Favoritin im Einzelzeitfahren. «Doch nach etwas mehr als der Rennhälfte sitzt die Schweizerin nicht mehr auf dem Sattel, sondern mit aufgerissenem Trikot und weinend im Gras am Strassenrand.» In einer aufschlussreichen Stellungnahme hat sie zusammengefasst berichtet, dass sie das Sportlerinnenleben mit viel Leidenschaft betrieben, dieses jedoch in den letzten Monaten stark am Energiehaushalt gezerrt hat. Wegen einer intensiven und erfolgreichen Saison blieb kaum Zeit und Raum, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Sie habe zwar gespürt, dass sie eine Pause brauchte, dies aber aus Rücksicht auf all die involvierten Menschen (Fans, Verband, Sponsoren …) und ihre Position («Mein Leben ist ein Privileg») nicht gemacht. Spannend ist, wie sie den Moment der Aufgabe beschrieben hat: «In diesem Zeitfahren habe ich erkannt, dass ich überhaupt nicht bereit bin, das nicht will. Ich habe das für andere Leute getan. Es wäre dann der Teil gekommen, in dem ich hätte aufdrehen müssen, und ich hatte überhaupt keinen Bock darauf. Und danach habe ich angehalten.» (Quelle: St. Galler Tagblatt vom 12. August 2023)
Das heutige ZRM-Häppchen stellt eine mögliche Erklärung für das Geschehene dar und was jede und jeder von uns daraus lernen kann. Dies ist keineswegs als Diagnose, sondern ganz im Sinne der ZRM-Coaching-Haltung als Idee zu verstehen. Auf jeden Fall habe ich grossen Respekt vor Frau Reusser, ihrem Entscheid und freue mich, dass sie «die Vorgänge in ihrem Inneren» der Öffentlichkeit zu Verfügung gestellt hat. Denn wir alle sind Marlen Reusser!*
Was der Radrennfahrerin zufällig und unerwartet passiert ist, können wir bewusst für unser Leben und unser Selbstmanagement anwenden, um langfristig gesund und glücklich zu leben. Dafür ist es wichtig zu beachten, dass wir Menschen im Gehirn zwei Bewertungs- und Entscheidungssysteme haben: Mit dem Verstand können Aufgaben geplant, Abläufe berechnet, Argumente abgewogen und vieles mehr gemacht werden. Die Verarbeitung ist bewusst und läuft über Sprache. Das zweite System ist das Unbewusste. Es erledigt seine Aufgaben im Verborgenen, es ist extrem schnell und dem Besitzer unbewusst. Die Bewertungen zeigen sich in sogenannten somatischen Markern, das sind diffuse Gefühle und/oder Körperempfindungen.
Damit wir längerfristig gesund bleiben und «stimmig» leben können, sollten die meisten Entscheide in Selbstregulation stattfinden.
Selbstregulation: Verstand und Unbewusstes werden synchronisiert: Bei wichtigen Lebensentscheiden (z.B. Karriere, Stellenwahl, Beziehungen, Hauskauf, …) müssen unbedingt Verstand und Unbewusstes zusammen Ja sagen. Das heisst, dass die beiden Systeme «zusammenspielen» und ein Entscheid sich stimmig anfühlt.
Selbstkontrolle: Der Verstand dominiert über das Unbewusste: Menschen haben die Fähigkeit, mit ihrem Verstand Gefühle und andere Signale des Unbewussten zu unterdrücken. Das ist wichtig, um sich auf etwas fokussieren zu können und um Ziele zu erreichen. Für die Prüfung zu lernen, statt baden zu gehen. Die Frucht zu wählen statt den Kuchen, um den Zuckerkonsum zu regulieren. Im ZRM gilt die Faustregel, das maximal 1/3 des Lebens unter Selbstkontrolle stehen soll.
Impulsivität: Das Unbewusste dominiert den Verstand: Was bei kleinen Kindern noch normal ist, ist bei Erwachsenen in vielen Fällen eine kleine «Behinderung». Wir geben längerfristige Ziele für kurzfristige Lustbefriedigung auf.
Zurück zur Situation von Marlen Reusser. Sie ist sich von jeher gewohnt (jetzt im Radsport wie auch früher für ihr Arztstudium), an grossen Zielen dranzubleiben. Das bedeutet, dass sie gewohnt ist, einen Teil ihrer Bedürfnisse für das angepeilte Ziel zu unterdrücken. Je stärker unsere Selbstkontrolle entwickelt ist, desto schwieriger ist es, die Botschaften des Unbewussten zu spüren, bzw. auch das Handeln darauf auszurichten. Marlen Reusser hat im Vorfeld gespürt, was richtig gewesen wäre, hat aber nicht darauf gehört.*
«Womöglich würden ganz viele Leute mal eine Pause benötigen, und wir sollten mehr davon machen.»
Und jetzt wird’s spannend. Je weniger wir auf diese Signale hören, desto lauter werden sie. Oder sie erwischen genau den richtigen «Slot», um die Verstandes-Barriere zu überlisten. Im Zeitfahren ist man nicht mit anderen unterwegs, sondern allein auf sich gestellt. Und wie wir das selber von Radtouren kennen: Wenn wir alleine unterwegs sind, kommt das Gehirn in einen anderen Modus und es steigen Gedanken und Ideen aus dem Unbewussten auf. Bei Frau Reusser die Sinn-Frage: Für das Rennen vielleicht «katastrophal», für ihr weiteres Leben jedoch von «zentraler Bedeutung».
«Ich habe noch nicht genug vom Velofahren. Ich werde wieder Wettkämpfe bestreiten. … Aber ich muss mehr auf mich und meinen Körper hören.»
Für ihre weitere Karriere würde es für Frau Reusser Sinn machen, die bewussten und unbewussten Bedürfnisse zu synchronisieren. In einem ZRM®-Coaching würden wir dazu diese explorieren und im Anschluss daran ein passendes Motto-Ziel entwickeln. Damit sie ihre weitere Karriere zufrieden und auf ihre Art in Selbstregulation fortsetzen kann.***
Quelle: Meier et al: «Ressourcenorientiertes Einzelcoaching nach ZRM®»
*«Wir alle sind Marlen Reusser Teil I»- Zum Thema gibt es in meinem Blog «respekt-los» noch ein weiteres spannendes Erklärungsmodell. Im aktuellen Beitrag erkläre ich hier den existenziellen Konflikt nach Jesper Juul, der das Aufgeben im WM-Zeitfahren nochmals anders beleuchtet.
**Bei allen Menschen sind diese Signale im Körper messbar, etwa 10% der Menschen können sie aber nicht bewusst wahrnehmen. Falls Sie dazugehören, der Suchbegriff wäre «Alexithymie oder Gefühlsblindheit»
***Ein beispielhafter ZRM-Prozess findet sich hier.
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